Archiv | Mai 2012

Nachtrag:


Ich hasse meine Familie.

Ich habe Glück, eine Familie zu haben.

Beides hat keinen definierbaren Grund.

Lucky One


Ich hasse es, dass es Menschen gibt, die klüger sind als ich, denn so fühle ich mich dumm.
Ich hasse es, dass es Menschen gibt, die hübscher sind als ich, denn so fühle ich mich hässlich.
Ich hasse es, dass es Menschen gibt, die besser sind als ich, denn so fühle ich mich schlecht.

Ich habe Glück, dass es Menschen gibt, die klüger sind als ich, denn so gelange ich nie an die einsame Spitze.
Ich habe Glück, dass es Menschen gibt, die hübscher sind als ich, denn so kann ich mich verstecken, wenn ich mich hässlich fühle.
Ich habe Glück, dass es Menschen gibt, die besser sind als ich, denn so kann ich mich immer noch verbessern.

Die Gewissheit liebt die Krankheit – oder andersrum?


Ich bin krank. Ich weiß das. Und ich habe mich damit ganz gut abgefunden. Nicht so krank, dass ich sterbe. Nicht körperlich krank. Und auch nicht so krank, dass ich mich umbringen werde. Ich werde mir nicht die Pulsadern aufschlitzen, mich erhängen oder mit dem Föhn in der Badewanne brutzeln. Wenn doch, dann war es ein Versehen.
Aber leider ist das Teil meines Problems.
Ein Beispiel, das dieses Problem erläutern könnte: Als ich vorhin auf der Toilette war und gesehen habe, dass nur noch zwei Rollen Toilettenpapier da sind, schoss es mir für eine zehntel Sekunde durch den Kopf, dass meine Mitbewohnerin absichtlich nur eine halbe, aufgerissene Packung Toilettenpapier geholt hat, damit mein Freund und ich schneller wieder dran sind, welches zu kaufen. Und für eine hundertstel Sekunde fühlte sich dieser Gedanke so durch und durch logisch und wahrhaftig richtig an, dass ich das Gefühl hatte, die ganze Welt mit einem Mal verstanden und durchschaut zu haben. Dann habe ich überlegt, wo man halbe, aufgerissene Packungen Toilettenpapier kaufen kann… Sagen wir, ich habe mit mir selbst Stillschweigen über diesen Gedanken vereinbart. Natürlich ist mir bewusst, dass ich soeben gegen dieses Abkommen verstoße. Aber ich kenne mich mittlerweile nach 24 gemeinsamen Jahren so gut, dass ich mir sicher bin, dass ich mir verzeihen werde.
Solche sekündlich andauernden Logiken schwirren nun täglich zu Hunderten in meinem Kopf herum. Es kann schon verwirrend sein, wenn man nie sicher ist, ob man sich selbst trauen kann. Denn es kommt vor, da ist der Mund genauso schnell, wie der Gedanke. Dann kann es schon mal unangenehm und peinlich werden. Immerhin, mein Freund liebt mich trotzdem. Möglich, dass er sich darüber bewusst ist, dass ich krank bin. Wenn ja, möchte er es sich wahrscheinlich noch nicht eingestehen. Er hat noch Hoffnung. Ich nicht. Schlimm ist, dass ich nicht schlimm genug krank bin. Denn das Schlimmste ist, es zu wissen und, weil man weiß, dass es nicht schlimm genug ist, nichts dagegen tun zu können.
Ich kann nur darüber schreiben. Das hilft erstens meinem Selbstwertgefühl, denn wenn ich schreibe, spiele ich eine Rolle. Ich stelle mir vor, ich wäre eine fantastische Schriftstellerin und, hätte ich nur die richtige Idee für ein Buch, würde ich richtig groß rauskommen. Es geht also um Anerkennung – natürlich. Aber wenn ich ehrlich bin, hilft es mir auch, alles ein klein wenig zu sortieren und gefiltert durch ein Ventil nach draußen zu lassen. So habe ich für kurze Zeit das Gefühl einer angenehmen Leere in meinem Kopf. Wenn ich Glück habe, hält das bis zu ein paar Tagen an.
Gegen die Krankheit hilft das Schreiben aber nicht. Es macht sie, ganz im Gegenteil, noch schlimmer. Denn wenn ich über die Krankheit schreibe, stelle ich sie vor mir auf und nehme sie auseinander. Ich betrachte jedes kleine Detail von ihr ganz genau und beschreibe es. So kann ich sie dann auch nicht mehr leugnen. Womöglich sehe ich auf die Weise sogar Teile meiner Krankheit, die mir vorher nicht aufgefallen waren. Das Schreiben ist also ein Pakt mit dem Teufel. 7 Tage verspricht er dir Ruhe und Zufriedenheit. Aber wenn die Zeit vorbei ist, sind die Sorgen, dass du verrückt bist, noch größer.
Ich lebe nun mittlerweile 15 Jahre mit der Vermutung, und 2 Jahre mit der Gewissheit, dass ich krank bin.
Die Krankheit hat viele Namen. Sie heißt „Macken“, „meine 5 Minuten“ und „Selbstzweifel“.